Die Bindungsforschung hat in den letzten Jahren eine Fülle von Erkenntnissen zur Bedeutung der Bindung für eine gelingende kindliche Entwicklung hervorgebracht. Die Erkenntnisse der Bindungsforschung haben das Wissen über die kindliche Entwicklung erweitert und den Blick für die Anforderungen an die Entwicklungsbedingungen und die Entstehung von Entwicklungsbelastungen geschärft.
Unter Bindung wird ein biologisch verankertes Bedürfnis verstanden, das für den Säugling eine überlebenssichernde Funktion hat. Das Bindungsverhaltenssystem hat sich stammesgeschichtlich sehr früh entwickelt und ist als Bestandteil des Stammhirns (in Verbindung mit dem Emotionszentrum im Mittelhirn) nicht rational, sondern intuitiv verfügbar. Bindung ist das gefühlsmässige Band, das sich zu jener Person in der Lebenswelt entwickelt, die Angst- und Spannungsreduktion gewährleistet und dem Kind die grundlegende Gewissheit vermittelt, dass sich jemand um es kümmert, und dass die Welt ein sicherer Ort ist. Auf dieses Wissen kann das Kind in späteren Entwicklungsphasen immer dann zurückgreifen, wenn es Belastung, Angst oder Stress erlebt. Solche Erfahrungen in der frühen Kindheit ermöglichen den Aufbau einer sicheren Bindung und tragen dazu bei, angemessene emotionale, volitive, soziale, physische und kognitive Fähigkeiten zu entwickeln. Gleichzeitig bilden die Bindungserfahrungen in früher Kindheit das Grundmuster für die Beziehungsgestaltung zu anderen Personen im weiteren Lebensverlauf.
Bindung ist ein lebenslanger Prozess, der sich in allen Phasen der menschlichen Entwicklung manifestiert und prägt. Von der Geburt bis ins hohe Alter entwickeln und verändern sich unsere Bindungsmuster und beeinflussen tiefgreifend, wie wir Beziehungen eingehen und erhalten. In der frühen Kindheit etablierte Bindungsmuster dienen als Vorlage für zukünftige Beziehungen, setzen die emotionale Grundlage und prägen das Selbstbild. Diese frühen Erfahrungen beeinflussen die Fähigkeit, Nähe zu anderen zuzulassen, Vertrauen aufzubauen und effektiv mit Trennung und Verlust umzugehen. Über die Lebensspanne hinweg, von den ersten Lebensjahren über die Schulzeit bis ins Erwachsenen- und Seniorenalter, spielt die Bindung eine entscheidende Rolle für unsere psychische Gesundheit und unser soziales Wohlbefinden.
Das Bindungsverhaltenssystem ist ab Geburt aktiviert – das ebenfalls biologisch verankerte Explorationsverhaltenssystem folgt etwas später. Schon kurz nach der Geburt erkundet der Säugling die Gegenstände um ihn herum mit den Händen und dem Mund. Später kann das Kind sich fortbewegen – der Explorationsradius vergrössert sich. Das Bindungs- und das Explorationsverhaltenssystem stehen in einem antagonistischen Verhältnis zueinander. Bei Belastung, Angst oder Stress wird das Bindungssystem aktiviert und das Explorationsverhalten eingeschränkt. Dieses Zusammenspiel von Bindung und Exploration hat weitreichende Bedeutung für Lernprozesse über den gesamten Lebenslauf.
Die kindlichen Erfahrungen mit den frühen Bindungspersonen werden als neuronale Muster im Gehirn des Kindes gespeichert. Diese Muster bindungsrelevanter Erinnerungen und Erfahrungen mit den Bindungspersonen werden als Bindungsrepräsentationen resp. als «Innere Arbeitsmodelle (IAM)» bezeichnet.
Diese Arbeitsmodelle (Schemata) sind erlernte «Wenn-dann-Modelle» für Beziehungen, welche die Beziehungsgestaltung für das weitere Leben beeinflussen. Sie prägen die Beurteilung der eigenen Wichtigkeit für andere (Bild des Selbst, Selbstwert) sowie die Einschätzung der Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit wichtiger Bezugspersonen (Bild des anderen). In IAM können die Fürsorgepersonen der Kindheit als feinfühlig, zuverlässig, verfügbar und unterstützend repräsentiert sein (als Basis für eine sichere Bindung) oder eben nicht (als Grund für unsichere Bindungsmuster). Wenn eine Situation in einer späteren Entwicklungsphase das Bindungsverhaltenssystem (BVS) aktiviert, bestimmt das IAM, welches Verhalten folgt, welche Gefühle zugelassen werden, wohin die Aufmerksamkeit gelenkt wird, und was aus der Umgebung wahrgenommen und erwartet wird. Die gleiche Situation kann daher von Menschen mit unterschiedlichen Bindungserfahrungen jeweils anders wahrgenommen werden und damit unterschiedliche Reaktionen hervorrufen.
Komplementär zum Bindungsverhaltenssystem (BVS) steht das ebenfalls evolutiv angelegte Fürsorgeverhaltenssystem (FVS) gegenüber.
Die erwachsene Bindungsperson reagiert mit ihrem Fürsorgeverhalten auf das Bindungsverhalten und die Bindungssignale des Kindes, indem sie die Signale und die dahinterliegenden Bedürfnisse beantwortet. Gemäss Mary Ainsworth kommt der Feinfühligkeit der Erwachsenen beim Bindungsaufbau eine besondere Bedeutung zu (Ainsworth et al., 1974):
Bindungsverhalten: Kind äussert Bedürfnisse (physiologische Laute, Wimmern, Weinen, Schreien, lächeln, anklammern, nachfolgen)
Fürsorgeverhalten: Mutter/Vater/Bindungsperson realisiert Bedürfnis und reagiert auf Bindungsverhalten bspw. mit sprechen, singen, füttern, wickeln, schmusen, halten, trösten, tragen, liebkosen etc.
Wenn ein Kind schreit, die Bezugsperson das Schreien als Hunger interpretiert, wird sie den Säugling stillen. Ev. ist das Baby aber auch überreizt, es ist ihm langweilig, hat kalt oder empfindet ein Unbehagen. Es ist genau diese Feinfühligkeit, die es braucht, um dem Baby angemessen zu begegnen und eine responsive Reaktion zu zeigen. Bindungsverhaltenssystem und Fürsorgeverhaltenssystem sind somit aufeinander zugeschnitten, ineinander verzahnt, abgestimmt und passen zusammen wie «Schlüssel und Schlüsselloch». Wenn ein Kind diesen Kreislauf tausendfach, zehntausendfach erfahren kann, entwickelt es eine sichere Bindung.
Bindungsrepräsentationen sind – bei ähnlichen Lebensbedingungen – stabil über den Lebenslauf, können aber durch korrigierende Bindungserfahrungen verändert werden. Gerade professionelle Betreuungspersonen (Familienarbeitende, Lehrpersonen, KITA-Betreuende) können dafür eine wichtige Rolle spielen, sofern sie über das nötige Fachwissen und Können verfügen.